Laudatio

Laudatio auf Gerd Heinz zur Verleihung des E.T.A.-Hoffmann-Kreisler-Preises in Freiburg am 29. Oktober 2008

Von Jürgen Wertheimer


Lieber Gerd, meine sehr verehrten Damen und Herren,

wenn einer einen Preis bekommt, muss das so ähnlich sein, wie wenn man einen runden Geburtstag feiert (oder stirbt). Gott und die Welt (vor allem letztere) fallen mit verschwörerisch-fröhlichen Gesicherten über den zu Feiernden her und überziehen ihn mit einem Gemisch aus Gaben, frommen Wünschen und gut gemeinten Worten. Es ist ein klassisches Rudel-Ritual im positivsten Sinn, es ist selbst ein Stück Theater. Monate vorher entwerfen eifrige Dramaturgen bereits in konspirativen Sitzungen erste Szenarien, die mental durchgespielt werden. - Einziger Unterschied zum Theater: Der Protagonist hat von dem, was um ihn vorgeht, keine Ahnung bzw. gibt auf überzeugende Art vor, keine Ahnung zu haben.

Das alles pflegt schon im Normalfall einigermaßen aufregend zu sein. Hier nun kommt hinzu, dass wir es mit einem ausgefuchst-abgebrühten Theatermann zu tun haben, mit einem, der es gewohnt ist, selbstdie Puppen tanzen zu lassen, die Fäden in der Hand zu halten, im Spiel und auch im „Spiel im Spiel“ Regie zu führen. Wie muss sich - habe ich mich im Vorfeld immer wieder besorgt gefragt - wie muss sich einer, der es gewohnt ist, selbst die Dinge in Szene zu setzen, vorkommen, wenn er sich nun zum Teil einer Inszenierung „degradiert“ wieder findet? Zugegeben in einer privilegierten Rolle, in der absoluten Hauptrolle, aber doch abhängig von Anderen. Man hat ja in letzter Zeit erfahren müssen, dass Preisverleihungs-Prozeduren auch aus dem Ruder laufen können, weil Gepriesene ihre Rolle nicht ernst nehmen und - ein Albtraum - in barocker Manier auf offener Bühne aus dem Stück aussteigen.

Nun ist der Star, der Protagonist des heutigen Abends gottlob als gelernter Schauspieler ein absoluter Profi, und wir dürfen erwarten, dass alles wunderbar über die Bühne geht. Aber Vor- und Rücksicht ist schon geboten. Der ohnehin Exponierte hat Anrecht darauf, schonend behandelt zu werden. Wir sollten uns bemühen, ihn nicht zu provozieren: etwa durch zu plumpes, sämiges, zu dick aufgetragenes Lob oder durch eine zu flache, eindimensionale Charakteristik und Analyse der Figur. Wir sollten es also vermeiden, uns kumpelhaft „ranzuschmeißen“, aber auch beckmesserisch die Stationen und Arbeiten dieses Mannes mit ziemlich vielen Eigenschaften - „Regisseur, Schauspieler, Intendant, Professor“, allein diese vier nennt Gerd Heinz in seiner Biographie selbst - zu katalogisieren. Wir sollten, finde ich, es ihm, einem so sprachversierten Menschen, auch nicht antun, ihn einen „begnadeten Pädagogen“ zu nennen. Nicht weil das keine schöne Beschreibung wäre, sondern weil es für mein Gefühl etwas Gönnerhaftes beinhaltet. Und etwas Herablassendes. In der Art, wie man Heinrich Böll durch das Prädikat „moralisch engagiert“ eigentlich literarisch marginalisiert hat.

Fast alle von uns wissen aus eigener aktiver oder passiver Anschauung, dass Gerd ein großartiger Lehrer ist. Es hier noch einmal breit auszumalen, wäre hochgradig redundant. Ebenso sind den meisten von uns viele seiner Stationen bekannt: Studium der Philosophie und Germanistik in Köln, parallel dazu Ausbildung zum Schauspieler und Regisseur, 1970 bis 1970 Schauspieldirektor und stellvertretender Intendant am Staatstheater Darmstadt, 1973 bis 1980 Regisseur am Thalia Theater Hamburg, 1980 bis 1982 Regisseur am Schauspielhaus Zürich, 1982 bis 1989 Intendant am Schauspielhaus Zürich und 1993 bis 1997 leitender Regisseur des Musiktheaters sowie Mitglied der Operndirektion in Freiburg. Daneben Filmrollen.

Die erwähnte etwa einseitige knappe biographische Skizze enthält einen bezeichnenden Satz, der mir haften geblieben ist. Er heißt:

„Da ich nicht Buch geführt habe, kann ich hier nur einige Rollen nennen von mir wichtigen Begegnungen mit Regisseuren.“

Nein, ich meine nicht die Bescheidenheit, die aus diesem Gestus spricht (das könnte genauso gut eine besonders feine Form der Eitelkeit sein); was mir auffällt, ist etwas anderes, ebenso Wohltuendes wie Riskantes. Wie soll ich es nennen? - Indifferenz? Das trifft es nicht. Unbekümmertheit? Vielleicht. Aber es steckt noch mehr dahinter. So etwas wie ein halb verstecktes Signal der Verweigerung. In einer Zeit wie dieser, in der engagierte Leute ihren CV tunen, bis dieser zu einem Mausoleum der Effizienz versteinert, ist diese souveräne Verweigerung ein ausgesprochen starkes Signal. Roh (womöglich falsch) übersetzt, bedeutet es für mein Gefühl in etwa:

„Ist das jetzt wirklich so wichtig? Wer mich kennt, weiß, dass ich ziemlich gut bin und was ich kann. Soll ich noch eine Homepage ins Netz setzen? Lächerlich. Außerdem habe ich jetzt gleich meine Klasse. Und am Abend ist noch Hauptprobe.“

Wer so akribisch, ernsthaft, geduldig, hingebungsvoll, motiviert und motivierend an einer Sache arbeitet, hat keine Zeit und keine große Lust zu Selbstinszenierungs-Kampagnen und auf jenen Selbstvermarktungsnarzissmus, der derzeit der sicherste Karriereweg zu sein scheint und immer neue „Module“ gebiert, obskure „Standards“ feiert, die Welten mit „Formaten“ ausstaffiert und mit „Clustern“ verkleistert. Er investiert seine Energien auch und gerade in solche Projekte, die nicht von Arte dokumentiert und automatisch von Stadelmaier kommentiert werden. Das ist alles andere als selbstverständlich für einen Künstler, der in Zürich sieben Jahre Furore gemacht hat, bevor er sich ab 1993 fürs Freiburger Theater entschied und damit einen ebenso konsequenten wie vielleicht nicht immer ganz einfachen Weg ging. Dennoch denke ich, es ist an der Zeit, heute festzustellen: Freiburg hat Glück gehabt, oder?

Auf die Gefahr hin, die übliche Laudatoren-Spur zu verlassen, sei mir hier ein Kommentar gestattet: Wir denken nun einmal in „Ligen“, jedenfalls widersprechen wir diesem unseligen Usus nicht laut genug. Für mich gehört Gerd Heinz nach Salzburg oder auch nach Bayreuth. Und ich könnte im Bedarfsfall namentlich ein paar Leute nennen, die dort ihr Wesen treiben und nicht hingehören. Ich räume ein, ich verfüge nicht über den Grad an Größe, der wohl dazugehört, sich über solche Asymmetrien und Quotenträchtigkeiten nicht zu ärgern. Zumal es sich dabei nicht nur um glatte Ungerechtigkeiten und gravierende Verwerfungen handelt, sondern auch und vor allem um systematisch betriebene Verdummungs- und Verflachungskampagnen von beachtlicher Konsequenz.

Für mich haben die Arbeiten von Gerd Heinz immer anschaulich gemacht, dass die Hypokrisie der Macher, die mit Krokodilstränen der Scheinheiligkeit den Zwang der Quote ins Feld führen (garniert auch noch mit speiübel riechendem Gesülze über „die Erschließung neuer Publikumsgruppen“), zum Himmel stinkt. Denn es geht: Man kann die Bude voll haben, ohne „Dreck“ abzuliefern. Man kann Verse sprechen, wenn man sie zu sprechen lehrt und die Leute nicht zu Analphabeten der Prosodie verkommen lässt. Man kann und darf auch noch Individuen auf der Bühne agieren lassen; man kann Situationen ausleuchten statt Gags aneinanderzureihen.

Man muss den Schauspielern nicht einen dekorativen Pappkopf aufsetzen, um sie Tschechow spielen zu lassen. Man muss keine Knallchargen in Strumpfhosen aufs Staatstheater stellen und Hamlet spielen lassen. Man könnte auch auf die - zugegeben sehr verwegene - Idee kommen, einfach Hamlet zu spielen. Ihn gut, klug zu spielen. Gerd Heinz beweist, dass es geht. Es könnte sein, dass dies nicht nur ein sehr schwieriger Weg ist, vielleicht sogar ein hochgradig riskanter, was den „Karrierepfad“ betrifft, ein geradezu lebensgefährlicher ist. Denn wer ihn geht, ist den Attacken vieler Tendenz-Winde ausgesetzt: Was tun, wenn einer die Tendenz hat, keine Tendenz zu haben, sondern Un-Ordnung transparent, Widersprüche erkennbar zu machen?

In Zürich, um nur einen Arbeitsort herauszugreifen, war die Arbeit für Gerd Heinz alles andere als unkompliziert. Rückblickend soll er über diese sieben Jahre Kampf um die Quadratur des Kreises von Geld, Kunst und Publikum gesagt haben, er hätte die ganze Zeit „auf einem Handtuch gezaubert“. Kein Blend-Werk wohlgemerkt, keine klimbimartigen Show-Effekte, sondern: Affekte. Große, im besten Sinne magische Momente, Augen-Blicke sind seine Sache. Und seine Zauberkunst besteht darin, die Fiktion der Ordnung ins vitalste Chaos zu bringen.

Ich, als einer von der anderen Seite, als „Kunde“, wie man das ja heute nennt, kann das bezeugen. Meine Gänsehaut ist mein Kronzeuge: im Bajazzo, wenn einer auf offener Bühne von seinen eigenen Emotionen überwältigt wird, sogar im Wallenstein, als ich zum ersten mal auch körperlich spürte, welche Zerstörungen, welche stumme, herz-zerreißende Ödnis nach dem Machtrausch, nach der Berauschung durch Macht kommt.

Von der Musik ganz zu schweigen. Und dabei in Sonderheit von jenen blitzartig erhellenden Momenten in den Opern, diesen, wie sagt Heinz so schön, „in diesen irrtümlich, multimedial gezeugten Beglückungszwittern und Wirrkopfgeburten“, die dich manchmal durchs Ohr ins Hirn und Herz so punktgenau treffen können, dass einem Hören und Sehen fast - aber nur fast - vergeht.

Ich habe das - ich glaube, es war 1994 (auch ich führe nämlich kein Buch und erinnere mich im Stil von Gerd Heinz dafür lebenslang an wichtige Begegnungen) - zu spüren bekommen, dass das Theater nicht wie immer, wenn alles gelingt, behauptet, die Welt nachahmt, sondern sie vielmehr erschafft. Wenn für eine Stunde aus lauter verschiedenen, verschieden schönen, verschieden klugen, unterschiedlich gut gewandeten Individuen eine - ich springe jetzt mal über den Schatten meiner hauseigenen Begrenzungsmauer und verwende einen Begriff des von mir sonst wie Weihwasser und Heidegger gemiedenen Sloterdijk - „Erregungsgemeinschaft“ wird. Eine erregte, bewegte, frappierte, in Bann geschlagene Gruppe. Ich möchte und muss jetzt genau sein, um nicht missverstanden zu werden. Mit „erregter Gemeinschaft“ meine ich nicht verdrehte Augen und ein diffuses Wir-Gefühl. Ich denke an dieses ganz spezielle „Gerd-Heinz-Gefühl“, das ich ein erstes Mal in Freiburg und erst jüngst in Stuttgart erlebt habe. Einmal war es Tannhäuser, jetzt Wie es Euch gefällt.  So unterschiedlich die Stücke wahrlich sind, die Reaktion in mir war ziemlich ähnlich; und ich bin mir sicher, viele von Euch und Ihnen können meine Eindrücke bestätigen. Man spürt, dass man von dem, was da passiert, erfasst wird, dass man getragen wird, sich ein wenig verwandelt und während man dies alles empfindet, sieht man sich dabei zu und entdeckt - dass man im Begriff ist, im Fühlen zu denken und im Denken zu fühlen, dass beides für ein paar Minuten oder Stunden zusammenfließt, ineinander aufgeht und etwas Neues erzeugt - etwas, das einfach mehr ist als das, was Rhetorik, Arena, Suchtmittel und leider auch Theologie vermitteln können.

Nun, meine Damen und Herren, ich hoffe, Sie hatten nicht das Gefühl, meine Laudatio auf Gerd wäre peu à peu zu einer „malédiction“ auf andere verkommen. Aber so ist das nun mal im richtigen Leben, und das eine funktioniert nicht ohne das andere. Ich kann noch nicht einmal jüngste Geschehnisse ausblenden. Beispielsweise eben einen Hamlet auf Staatstheaterbühne, der als Knallchargen-Theater gefeiert wird: „Das muss man mögen. Bitte, ich habe es gemocht“, urteilt einer der Großen der Kritikerzunft in der FAZ. Da flackert in mir einfach die Erinnerung an Deinen brilliant-konzentriert-dichten Wallenstein auf und die ungeheuerlich ignorante Reaktion der Großkritik damals.

Doch, Gerd Heinz hat den dritten Weg zwischen Beliebigkeit und Klamotte einerseits und verquälter Intellektuellen-Dramaturgie andererseits gefunden und die preisgegebene Mitte als eine absolut nicht-mittelmäßige zurückerobert. Ein basisdemokratischer Vorgang, der ein Bundesverdienstkreuz eigener Art verdienen würde!

Was mir sonst noch erwähnenswert erscheint? Vielleicht und immer wieder und vor allem eines: Seine Fähigkeit, Texte zum Leben zu erwecken. Ich erinnere mich gut an eine Lektion mit Studenten in der noblen Villa Vigoni am Comer See. Schläfrige Nachmittagsstunde im Frühherbst. Schillers Kabale und Liebe. Was dann kam, wie bei Kortner, als er 5.7 inszenierte und die beiden Schauspieler plötzlich begriffen, was eigentlich zwischen den Zeilen, unter der Oberfläche der Wörter passiert. So auch hier: Jedes „Halten zu Gnaden“, jede Floskel, jede verkrampft-geflissentlich untertänige Redewendung wurde zum Affront, jedes „Ach“ ein Schrei, jedes Schweigen zum Fanal. Danach war die Gruppe um ein paar Bühnenjahre erfahrener, und wir konnten anfangen weiterzumachen. Und ich hoffe, lieber Gerd, auch wir können noch so manches Jährchen weitermachen und Projekte der Wiederauferstehung aus der akademischen Klassikerstarre realisieren. Jeder für sich und - wenn’s geht - gemeinsam.

Auguri, saluti - al lavoro!

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